Hyperemesis gravidarum

Inhaltsverzeichnis

Schwangerschaftsbedingte Übelkeit mit oder ohne Erbrechen betrifft 50-80% aller Frauen in der Frühschwangerschaft. Die Hyperemesis gravidarum (HG), mit welcher die schwere Form des schwangerschaftsbedingten Erbrechens gemeint ist, betrifft 0,5 bis 3% aller Schwangeren. Es handelt sich dabei um eine klinische Ausschlussdiagnose.

Die genaue Ätiologie bleibt weiterhin ungeklärt. Es wird von einer multifaktoriellen Genese, bei der hormonelle, mechanische, psychologische, evolutionäre und genetische Faktoren eine Rolle spielen können, ausgegangen. Weitere Risikofaktoren sind z.B. eine hohe Plazentamasse, wie sie bei Mehrlingen oder einer Blasenmole vorkommt, sowie die persönliche und familiäre Krankengeschichte.

Die am häufigsten verwendeten Kriterien zur Definition der Hyperemesis gravidarum umfassen anhaltendes Erbrechen (5-10x/Tag, morgendlich oder über den ganzen Tag verteilt), akute Dehydrierung, Elektrolytverschiebungen, Ketonurie und Gewichtsverlust > 5% oder > 3kg des Ausgangsgewichts vor der Schwangerschaft.

 

Typischer Beginn der Symptome ist in der 5.-6. SSW mit einem Peak in der 9. SSW und einem Andauern bis zur 16.-20. SSW. In seltenen Fällen (10-20%) bleiben die Symptome die gesamte Schwangerschaft bestehen. Ein Wiederauftreten in einer Folgeschwangerschaft ist wahrscheinlich (24-80% der Fälle).

 

Zur Objektivierung des Schweregrades der Hyperemesis gravidarum wird die Verwendung von Scores wie z.B. dem PUQE-Score (Pregnancy-Unique Quantification of Emesis and Nausea) empfohlen. Diese können zur Einteilung des Schweregrades (mild, moderat, schwer) sowie zur Beurteilung des Therapieerfolges verwendet werden.

Anamnese   

  • Hyperemesis gravidarum in einer vorausgegangenen Schwangerschaft
  • PUQE-Score
  • Bauchschmerzen, Miktionsbeschwerden, Infektzeichen, Medikamenteneinnahme, chronische H. pylori-Infektion

Untersuchung

  • BD, Puls, O2-Sättigung, AF, Gewicht
  • Palpation des Abdomens
  • Ultraschall: intakte intrauterine Gravidität? Mehrlinge? Trophoblasterkrankung?

Labor

  • Urinstatus: Ketonkörper, spez. Gewicht/Dichte, Harnwegsinfekt?
  • Blutbild: Infektion? Anämie? Hämatokrit?
  • Elektrolyte: Natrium, Kalium, Calcium, Chlorid
  • Kreatinin, Harnstoff
  • ALAT/ASAT (Erhöhung in bis zu 40% der Patientinnen mit HG, typisch ALAT > ASAT, ALAT mit milder Erhöhung auf das 2-3fache der Norm möglich)
  • TSH, fT3, fT4 (Schilddrüsenstimulierende Wirkung des β-HCG, Erhöhung fT4 oder Verminderung TSH < 0,4 mU/L, bei negativen Autoimmunantikörpern: transient biochemical thyreotoxicosis, keine Therapie, Normalisierung mit Regredienz der Symptome)

Bei schweren/rezidivierenden Fällen oder Vorerkrankungen

  • aBGA (metabolische Entgleisung)
  • Vitamin B1 (Werrnicke-Enzephalopathie)
  • Blutzuckerkontrolle bei Diabetes (Ketoazidose)
  • Amylase (Pankreatitis)
  • alkalische Phosphatase, Bilirubin

Die Hyperemesis gravidarum ist eine Ausschlussdiagnose. Andere mögliche Ursachen müssen ausgeschlossen werden:

  • Gastrointestinale Erkrankungen: Gastroenteritis, Gastroparese, Gastritis/Magenulkus (H. pylori), Erkrankungen der Gallenwege, Hepatitis, Darmverschluss, Pankreatitis, Appendizitis, innere Hernie nach Magen-Bypass-Operation
  • Urogenitalerkrankungen: Pyelonephritis, Urämie, Nephrolithiasis, Ovarialtorsion, Myomdegeneration
  • Endokrine und metabolische Erkrankungen: diabetische Ketoazidose, Porphyrie, Morbus Addison, Hyperthyreose, Hyperparathyreoidismus, Hyperkalzämie
  • Neurologische Erkrankungen: Migräne, Pseudotumor cerebri (erhöhter intrakranieller Druck), ZNS-Tumore, vestibuläre Störungen, Wernicke-Enzephalopathie
  • Schwangerschaftsbedingte Erkrankungen: Präeklampsie nach der 20. SSW, HELLP-Syndrom, akute Fettleber in der Schwangerschaft
  • Sonstige Erkrankungen: Arzneimitteltoxizität oder -unverträglichkeit, Essstörungen und andere psychische/psychiatrische Erkrankungen

Maternale Komplikationen

  • Häufig: Suizidgedanken (32%), Gewichtsverlust > 15%, mit einem posttraumatischem Stresssyndrom assoziierte Depression (18%)
  • Selten: Ernährungsdefizite wie Wernicke-Enzephalopathie (verursacht durch Vitamin B1 (=Thiamin) -Mangel), schwere Elektrolytstörungen, thromboembolische Ereignisse, Thyreotoxikose
  • Sehr selten/Einzelfälle: Retinaablösung, Pneumothorax, Rippenfrakturen, Funktionsstörungen der Gallenblase, Leberinsuffizienz, akute tubuläre Nekrose, Milzruptur, Hämatemesis (Mallory-Weiss-Syndrom)

 

Fetale Komplikationen

  • Leicht erhöhte Inzidenz von Wachstumsretardierungen/niedrigem Geburtsgewicht und Frühgeburtlichkeit (vor allem wenn die HG die gesamte Schwangerschaft anhält, mehrere Spitalaufenthalte nötig sind und es nicht zu einer Aufholgewichtszunahme kommt)
  • Bei maternalem Gewichtsverlust > 15%: kleinerer Kopfumfang, reduziertes kortikales Gesamtvolumen, erhöhtes Risiko für neurologischer Entwicklungsstörungen und Autismus

Im Grundsatz gilt, dass frühzeitig therapiert und dabei ein schrittweises Vorgehen gewählt werden soll. Die Behandlung sollte dementsprechend mit diätetischen Maßnahmen, Komplementärtherapien und Vitamingabe beginnen. Bei Weiterbestehen der Symptome sollte eine medikamentöse Therapie eingeleitet werden. Siehe auch Therapie-Algorithmus der SGGG.

 

Ernährungs- und Lifestyle-Beratung

  • Vermeidung eines leeren oder überfüllten Magens: Einnahme von kleinen und häufigeren Mahlzeiten alle 1-2 Stunden, Festes und Flüssiges nicht mischen
  • Einnahme von trockenen Nahrungsmitteln, Snacks mit hohem Proteingehalt und Knäckebrot morgens vor dem Aufstehen
  • Vermeidung geschmacksintensiver, würziger, fettiger oder sehr süßer Speisen
  • Mögliche Linderung der Symptome durch Pfefferminztee oder Pfefferminzbonbons
  • Auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr achten, Kaffee und Kohlensäure meiden
  • Stressoren und sensorische Stimuli wie Gerüche, Hitze, hohe Luftfeuchtigkeit, Lärm, grelles oder flackerndes Licht vermeiden
  • Bereits präkonzeptionell Einnahme eines Multivitaminpräparats, bei den ersten Symptomen Umstellung auf ein Folsäure-Monopräparat, Vermeidung von eisenhaltigen Präparaten
  • Bei St.n. schwerer Hyperemesis gravidarum: Therapiebeginn in einer Folgeschwangerschaft bereits vor Symptombeginn

 

Komplementärtherapie

  • Akupressur: Pe-6 Druck (3 Querfinger proximal des Handgelenks zwischen den Sehnen des M. palmaris longus und des M. flexor radialis), Du 12, Du 20: Signifikante Reduktion der Symptomatik nicht erwiesen, jedoch starker Placebo-Effekt vermutet, daher Versuch empfohlen (Seirin Pyonex 0.6mm; im gynäkologischen Ambulatorium vorhanden)
  • Anwendung/Einnahme von Ingwer: Verringerung der Übelkeit erwiesen, jedoch kein reduzierender Effekt auf das Erbrechen, Einsatz bei antikoagulierten Patientinnen nicht empfohlen (im Tierversuch Senkung von Thromboxan B(2)- und PG E(2)-Spiegeln)

Medikamentöse Therapie

Zusätzlich:

  • Flüssigkeitshaushalt: ca. 30-40ml/kg KG/Tag, z.B. 1000ml Ringer und 1000ml 5%-Glucose pro Tag
  • Magenschutz: additiv bei Symptomen oder belasteter Anamnese, z.B. H1-Protonenpumpeninhibitor (Esomeprazol, Pantoprazol)
  • Enterale Sondenernährung oder parenterale Ernährung: bei sehr schweren Formen, evtl. zentralvenöser Zugang
  • Bei stationärer Therapie:
    • Urinstix auf Ketone im Morgenurin
    • Gewicht täglich morgens
    • Prophylaktische Antikoagulation mit Fragmin körpergewichtsadaptiert 1x/Tag
    • Verlaufskontrollen von Elektrolyte und Kreatinin
  • Anderka M, Mitchell AA, Louik C, Werler MM, Hernández‐Diaz S, Rasmussen SA & National Birth Defects Prevention Study (2012). Medications used to treat nausea and vomiting of pregnancy and the risk of selected birth defects. Birth Defects Research Part A: Clinical and Molecular Teratology;94(1):22-30.
  • Bérard A, Sheehy O, Gorgui J, Zhao JP, de Moura CS & Bernatsky S (2019). New evidence for concern over the risk of birth defects from medications for nausea and vomitting of pregnancy. Journal of Clinical Epidemiology;116:39-48.
  • Committee on Practice Bulletins-Obstetrics (2018). ACOG Practice Bulletin No. 189: nausea and vomiting of pregnancy. Obstet Gynecol;131(1):e15-30.
  • Einarson TR, Piwko C & Koren G (2013). Quantifying the global rates of nausea and vomiting of pregnancy: a meta-analysis. Journal of population therapeutics and clinical pharmacology;20(2):e171-e183.
  • Embryotox: www.embryotox.de
  • Lacasse A, Rey E, Ferreira E, Morin C & Bérard A (2008). Validity of a modified Pregnancy-Unique Quantification of Emesis and Nausea (PUQE) scoring index to assess severity of nausea and vomiting of pregnancy. American journal of obstetrics and gynecology;198(1):71-e1.
  • Lemon LS, Bodnar LM, Garrard W, Venkataramanan R, Platt RW, Marroquin OC & Caritis SN (2020). Ondansetron use in the first trimester of pregnancy and the risk of neonatal ventricular septal defect. International Journal of Epidemiology;49(2): 648-656.
  • Martinez de Tejada B, Vonzun L, Von Mandach DU, Burch A, Yaron M, Hodel M, Surbek D, Hoesli I (2021). Nausea und Erbrechen in der Schwangerschaft, Hyperemesis gravidarum. SGGG-Expertenbrief No. 76.
  • Matthews A, Haas DM, O'Mathúna DP & Dowswell T (2015). Interventions for nausea and vomiting in early pregnancy. Cochrane Database of Systematic Reviews; (9).
  • Parker SE, Van Bennekom C, Anderka M & Mitchell AA (2018). Ondansetron for treatment of nausea and vomiting of pregnancy and the risk of specific birth defects. Obstetrics & gynecology;132(2):385-394.
  • Schrager NL, Parker SE, Werler MM & National Birth Defects Prevention Study (2023). The association of nausea and vomiting of pregnancy, its treatments, and select birth defects: Findings from the National Birth Defect Prevention Study. Birth Defects Research;115(3):275-289.
  • Sun L, Xi Y, Wen X & Zou W (2021). Use of metoclopramide in the first trimester and risk of major congenital malformations: A systematic review and meta-analysis. PloS one;16(9):e0257584.

Autor: Sara Ardabili 
Autorisiert: Christine Brambs
Version:01.04.2023
Gültig bis:30.04.2024